Neue EU-Spielzeugverordnung: Digitaler Produktpass als Daten-Gamechanger
Was Hersteller und Händler jetzt zu Sicherheitsbewertung, Chemikalienverboten und dem digitalen Produktpass wissen müssen – und welche Rolle PIM und saubere Produktdaten spielen.
1. Warum die EU ihre Spielzeugregeln neu schreibt
Die EU gilt seit Jahren als einer der strengsten Märkte für Spielzeugsicherheit – und trotzdem landen immer wieder gefährliche Produkte in Kinderhänden.
Zwei Zahlen aus den EU-Dokumenten sprechen eine klare Sprache:
- 15 % aller Meldungen im EU-Schnellwarnsystem für gefährliche Verbraucherprodukte betreffen Spielzeug – damit ist es die zweithäufigste Risikokategorie nach Kosmetika.
- 2023 wurden Spielwaren im Wert von 6,5 Milliarden Euro in die EU eingeführt, 80 % davon aus China.
Gleichzeitig verlagert sich der Vertrieb immer stärker ins Netz – inklusive Direktimporten von Nicht-EU-Anbietern über Marktplätze. Und: Spielzeug ist längst nicht mehr nur Holzklotz und Teddybär, sondern oft digital vernetzt, mit Sensoren, Apps und KI-Elementen.
Die bisherige Richtlinie von 2009 konnte diese Realität nur noch bedingt abbilden. Genau hier setzt die neue Spielzeugverordnung an, die das EU-Parlament nun beschlossen hat.
2. Von der Richtlinie zur Verordnung: Was sich rechtlich ändert
Der vielleicht wichtigste formale Schritt:
- Aus der Spielzeugrichtlinie wird eine Spielzeugverordnung.
- Eine Verordnung gilt unmittelbar in allen Mitgliedsstaaten – ohne nationale Umsetzungsgesetze.
Für Hersteller, Importeure und Händler heißt das:
- Weniger Interpretationsspielraum pro Land
- Mehr Harmonisierung im Binnenmarkt
- Gleichzeitig aber: direkter Anpassungsdruck, weil nationale „Zwischenpuffer“ wegfallen
Die neuen Regeln treten 20 Tage nach Veröffentlichung im EU-Amtsblatt in Kraft. Für die Umsetzung erhalten Mitgliedsstaaten und Industrie eine Übergangsfrist von viereinhalb Jahren – kurz gesagt: Die Zeit ist knapp, wenn man bedenkt, wie tief die Änderungen in Prozesse, Systeme und Lieferketten eingreifen.
3. Der digitale Produktpass: Herzstück der Reform
Im Zentrum der Verordnung steht ein Instrument, das für die Zukunft der Produktdaten besonders spannend ist: der digitale Produktpass (DPP).
3.1 Was ist der digitale Produktpass?
Laut Verordnung gilt künftig:
- Jedes Spielzeug in der EU muss einen digitalen Produktpass haben.
- Der DPP ersetzt die bisherige EU-Konformitätserklärung.
- Er muss mindestens zehn Jahre nach Inverkehrbringen verfügbar bleiben.
- Zugriff erfolgt über einen Datenträger wie einen QR-Code, der
- auf dem Spielzeug,
- einem Etikett,
- der Verpackung oder
- der Begleitdokumentation
angebracht ist – und vor dem Kauf gut sichtbar sein muss.
Der DPP soll:
- Nachweis der Einhaltung aller Sicherheitsanforderungen sein
- Rückverfolgbarkeit über die gesamte Lieferkette verbessern
- Marktüberwachung und Zollkontrollen deutlich effizienter machen
- Verbrauchern einfachen Zugriff auf Sicherheitsinformationen, Warnhinweise und Konformitätsstatus ermöglichen
Kurz: Der DPP ist die digitale Identitäts- und Compliance-Karte jedes Spielzeugs.
3.2 Was steckt inhaltlich im DPP?
Die Verordnung listet keine vollständige Datenstruktur, aber aus den Anforderungen ergibt sich ein klarer Kern, den Produktdaten-Teams im Blick haben sollten:
- Hersteller- und Importeurinformationen
- CE-Kennzeichnung und zugrunde liegende Prüfnormen
- Ergebnisse der Sicherheitsbewertung (siehe unten)
- Aussagen zu chemischen Stoffen, insbesondere verbotene/limitierte Substanzen
- relevante Warnhinweise und Altersangaben
- Hinweise zu besonderen Risiken bei digitalem Spielzeug
Für PIM-Verantwortliche heißt das:
Der DPP wird nicht „irgendein PDF im Anhang“, sondern ein strukturiertes, referenzierbares Datenset, das lebenszyklusfähig sein muss.
4. Strengere Chemikalienregeln: Was im Spielzeug nichts mehr zu suchen hat
Die Verordnung verschärft die Anforderungen an chemische Stoffe massiv. Das bisherige Verbot von krebserzeugenden, erbgutverändernden und fortpflanzungsgefährdenden Stoffen wird ausgeweitet.
Künftig sind u. a. verboten bzw. deutlich reglementiert:
- Endokrine Disruptoren (Stoffe, die das Hormonsystem stören)
- Chemikalien, die die Atemwege schädigen
- Substanzen, die giftig für Haut und andere Organe sind
- Die vorsätzliche Verwendung von PFAS („Ewigkeitschemikalien“)
- Die gefährlichsten Arten von Bisphenolen
- Allergene Duftstoffe in
- Spielzeug für Kinder unter 3 Jahren und
- Spielzeug, das dazu bestimmt ist, in den Mund genommen zu werden
Konsequenzen für Einkauf und Produktdaten
Für Hersteller und Händler bedeutet das:
- Lieferketten müssen bis auf Substanzebene transparent sein.
- Materialdatenblätter, Prüfberichte und Chemikalienlisten werden zu Pflichtdaten in PIM/PLM.
- Es braucht digitale „Negativlisten“ (verbotene Stoffe) und ggf. „Watchlists“ (kritische Stoffe), die automatisiert gegen Produktstammdaten geprüft werden.
Mit anderen Worten: Ohne sauber gepflegte Material- und Inhaltsstoffdaten wird die Einhaltung der neuen Chemikalienregeln praktisch unmöglich.
5. Sicherheitsbewertung: Vom Produkt zur umfassenden Risikoanalyse
Ein zweites starkes Element der Verordnung ist die Pflicht zur Sicherheitsbewertung vor dem Inverkehrbringen.
Hersteller müssen künftig alle potenziellen Gefahren analysieren:
- Chemische Risiken
- Physikalische und mechanische Risiken
- Elektrische Gefahren
- Entflammbarkeit
- Hygiene
- Radioaktivität
Dabei sind die besonderen Bedürfnisse und Verwundbarkeiten von Kindern explizit zu berücksichtigen.
Für digital vernetztes Spielzeug kommt eine weitere Dimension hinzu:
- Es müssen Gesundheitsrisiken, inklusive möglicher Gefahren für das psychische Wohlergehen, bewertet werden.
Das ist ein Paradigmenwechsel: Sicherheit wird nicht mehr nur physikalisch oder chemisch gedacht, sondern umfasst auch digitale und psychische Aspekte.
Dokumentation im DPP und in Ihren Systemen
Diese Sicherheitsbewertung ist nicht nur ein interner Prozess – sie muss nachvollziehbar dokumentiert und im Zweifel gegenüber Behörden belegbar sein. Ideal ist es, wenn:
- die Bewertung strukturiert (nicht nur in Berichts-PDFs) vorliegt,
- im PIM/PLM ein klarer Bezug zwischen
- Produkt,
- Risikobewertung,
- Prüfergebnissen und
- DPP-Version
hergestellt wird,
- Änderungen (z. B. Materialwechsel, neue Version) automatisch einen Review-Workflow auslösen.
6. KI im Spielzeug: Schnittstelle zur KI-Verordnung (AI Act)
Spannend für alle, die an Smart Toys arbeiten:
Die Spielzeugverordnung definiert keine eigenen Cybersicherheits- oder Datenschutzanforderungen für KI. Stattdessen gilt:
- Spielzeug mit KI-Elementen muss die Anforderungen des AI Act erfüllen.
- Spielzeuge, die KI-Systeme als Sicherheitskomponenten nutzen und eine Konformitätsbewertung durch Dritte erfordern, werden im Rahmen der KI-Verordnung als hochriskant eingestuft.
Zusätzlich verlangt die Spielzeugverordnung, dass Hersteller:
- Privacy by Design umsetzen,
- das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt stellen
- und dafür sorgen, dass keine Gefahren für die geistige Gesundheit entstehen.
Für Produkt- und Daten-Teams heißt das:
- KI-Features müssen gemeinsam von Entwicklung, Legal, IT-Security und Produktdaten-Management bewertet werden.
- Beschreibungen von KI-Funktionen, Datenflüssen und Sicherungsmaßnahmen gehören in die technische Dokumentation – und damit auf Sicht auch in den DPP oder in referenzierte Dokumente.
7. Wirtschaftsakteure, Fulfillment & Online-Marktplätze: Pflichten entlang der Kette
Die Verordnung präzisiert die Rollen und Pflichten aller Wirtschaftsbeteiligten:
Betroffen sind u. a.:
- Hersteller
- Importeure
- Händler
- Dienstleister für Lagerung, Verpackung, Versand (Fulfillment)
Einige zentrale Punkte:
- Hersteller müssen Warnhinweise in leicht verständlicher Sprache anbringen.
- Wenn sich Risiken zeigen, müssen sie Korrekturmaßnahmen ergreifen und Marktüberwachungsbehörden sowie Verbraucher unverzüglich informieren.
Online-Marktplätze im Fokus
Da ein großer Teil des Spielzeugs heute online verkauft wird, verschärft die Verordnung die Anforderungen an Plattformen wie Amazon, Otto.de & Co.:
- Die Plattformen müssen so gestaltet sein, dass Verkäufer CE-Kennzeichnung, Sicherheitswarnungen und den digitalen Produktpass anzeigen können, bevor der Kauf abgeschlossen wird.
- Spielzeuge, die den Sicherheitsvorschriften nicht entsprechen, gelten nach dem Digital Services Act (DSA) als „rechtswidrige Inhalte“.
Für Händler bedeutet das:
- Unvollständige oder falsche Produktdaten sind nicht mehr nur „unschön“, sondern können rechtlich brisant werden.
- Ohne korrekt gepflegte Felder zu CE-Kennzeichnung, Warnhinweisen und DPP ist ein regelkonformer Verkauf auf Marktplätzen kaum möglich.
8. Was Hersteller und Händler jetzt konkret tun sollten
Für die Zielgruppe „Hersteller und Händler“ – insbesondere mit vielen SKUs, Varianten und internationalen Lieferketten – ist klar: Das Thema ist kein reines Rechtsprojekt, sondern ein Daten- und Prozessprojekt.
8.1 Produktdaten- und PIM-Hausaufgaben
- System-Check
- Gibt es bereits ein PIM oder eine zentrale „Produktdatenfabrik“?
- Wo liegen heute Informationen zu Sicherheit, Materialien, Warnhinweisen – ERP, PLM, Excel, PDFs?
- DPP-Datenmodell definieren
- Welche Felder sind für den digitalen Produktpass nötig?
- Wie werden Chemikalien, Prüfberichte, Warntexte, Konformitätsnachweise strukturiert?
- Welche Informationen müssen in Maschinenlesbarkeit vorliegen?
- Prozess für Sicherheitsbewertung verankern
- Wer verantwortet die Risikoanalyse?
- Wie werden Ergebnisse dokumentiert und freigegeben?
- Wie wird sichergestellt, dass Produktänderungen (Material, Lieferant, Design) erneut bewertet werden?
- Datenqualität professionalisieren
- Pflichtfelder, Validierungsregeln, Workflows für Freigaben
- Automatische Checks gegen Verbots- und Watchlisten für Chemikalien
- Versionierung und Änderungs-Historie für DPP-relevante Daten
8.2 Vertrieb & Online-Kanäle anpassen
- Produktdatenfeeds an Marktplätze um Felder für
- CE-Kennzeichnung,
- Warnhinweise,
- DPP-Link / QR-Code
erweitern.
- Prüfen, welche Bilder und Texte angepasst werden müssen, um Sicherheitsinformationen sichtbar zu machen.
- Klären, wie der Zugriff auf den DPP in eigenen Shops und auf Plattformen gelöst wird (z. B. QR im Bild, Link, spezielles Datenfeld).
8.3 Lieferanten- und Partnermanagement
- Lieferanten vertraglich und technisch auf die neuen Chemikalien- und Dokumentationsanforderungen verpflichten.
- Standardisierte Fragebögen und Datenformate (z. B. Templates) für Material- und Sicherheitsdaten einführen.
- Prüfen, welche externen Partner (Testlabore, Zertifizierer, Datenprovider) eingebunden werden müssen.
9. Übergangsfrist nutzen: Roadmap statt Aktionismus
Vier ein halb Jahre Übergangsfrist klingen komfortabel – sind es aber nicht, wenn man:
- hohe Sortimentsbreite (viele SKUs),
- komplexe Lieferketten und
- historisch gewachsene Systemlandschaften hat.
Eine sinnvolle Roadmap könnte so aussehen:
- 0–12 Monate:
- Rechts- & Risikoanalyse, Scope klären
- System- und Dateninventur
- Zielbild für DPP-Datenmodell und PIM-Rolle definieren
- 12–30 Monate:
- PIM/PLM anpassen oder einführen
- Lieferantendaten strukturiert erfassen
- Prozesse Sicherheitsbewertung implementieren
- Pilotprodukte mit vollständigem DPP durchspielen
- 30–54 Monate:
- Rollout auf Gesamtportfolio
- Integration mit Marktplätzen und Händlerkanälen
- Feintuning, Audits, interne Schulungen
Wer früh startet, kann die Verordnung nicht nur erfüllen, sondern sie als Wettbewerbsvorteil nutzen: „Wir sind nachweislich sicher, transparent und EU-konform“ ist ein starkes Verkaufsargument – gerade gegenüber Markenbewussten, Eltern und institutionellen Einkäufern.
10. Fazit: Der digitale Produktpass macht Produktdaten strategisch
Die neue EU-Spielzeugverordnung ist weit mehr als ein juristisches Update. Sie macht sichtbar, was vielen Unternehmen ohnehin klar ist:
- Ohne strukturierte, konsistente und vollständige Produktdaten ist moderne Regulierung nicht beherrschbar.
- Digitaler Produktpass, Chemikalienverbote, Sicherheitsbewertung und Online-Transparenz greifen direkt ineinander.
- Wer seine Produktdatenfabrik und sein PIM im Griff hat, wird künftig deutlich weniger Stress mit Marktaufsicht, Zoll und Plattformen haben – und gleichzeitig Vertrauen bei Kunden gewinnen.
Die Verordnung sendet ein klares Signal: Sicherheit darf nicht dem Zufall überlassen werden.
Für Hersteller und Händler heißt das: Daten dürfen es auch nicht.

